Ein kalter Luftzug streifte meinen Penis, als mir 60 Menschen in Regencapes gegenüber saßen und eine Träne meinem geschminkten Auge entwich. Außer einer etwas zu langen Boxershorts trug ich nur ein jämmerliches, unechtes Fell – ich stand da also fast nackt im Regen bei gefühlten fünf Grad und brüllte meinen Schlachtruf.
Das nennt man Freilichttheater. Ich spielte einen cheruskischen Edeling aus dem Mittelalter auf einer offenen Bühne – draußen, ohne Überdachung, mit Wind und Wetter. Eine absurde Erfahrung.
Da überrascht es mich kaum, als Riggan Thomson (Michael Keaton) nur in Unterhose durch den Haupteingang des Saales stürmt, seine Sätze schmettert wie auf Droge und jeden anderen Kollegen zutiefst irritiert. Das ist wohl die Essenz von Theater, von Schauspiel und vielleicht auch von Hollywood: Die totale Nacktheit im Angesicht tiefster Verzweiflung lässt die Menschen jubeln.
Riggan war einst Birdman, in drei Filmen spielte er den Superheld, verdiente Millionen und begeisterte vermutlich ebenso viele Menschen. Seine Karriere aber gammelt. Sie müffelt nach Arroganz und Unlust. Jetzt, Jahre nach der Birdman-Trilogie, der Ruhm schon längst in verprassten Millionen erloschen, will es Riggan noch einmal versuchen: am Broadway, als Regisseur, Autor und Hauptrolle. Er will sich profilieren.
So recht entscheiden zwischen fröhlicher Hyperventilation und schmerzender Augenverdreherei kann ich mich nicht. Birdman ist ein Film über das Künstlerdasein, über das Gefangensein im Vergangenen und die Ignoranz über eine sich wandelnde Welt. Birdman ist Kino über Kino, Birdman ist Theater über Theater. Vor allem ist Birdman heftig prätentiös.
Zuallererst ist Regisseur Alejandro Gonzalez Inarritu ein Träumer. Einer, der sich nicht für Fiktion interessiert, sondern für die Entstehung davon. Während er träumt, erforscht er die Hintergründe, sucht das Warum, egal wie viel sengender Schmerz die Antwort auch bringen mag. Inarritu verleiht der Tragik immer auch eine höhere Ebene, eine, die der Zuschauer noch ergründen, ja auch wie der Regisseur erst erforschen muss.
Birdman ist da keine Ausnahme, wenngleich es der bislang lustigste Film von Inarritu ist. Bei solch tonnenschweren Schicksalsepen wie Babel, 21 Gramm oder Amores Perres nicht unbedingt erwartbar. Da gären vor allem die Sprüche von Riggans zweiter Persönlichkeit in tiefem Zynismus – etwa, wenn er direkt zu Beginn sagt, dass es im seinem Umkleideraum nach Klöten riecht. Birdman steckt in Riggan; er spricht nicht, er lenkt. Wo genau Inarritu also zu träumen beginnt, ist auch bei Birdman wieder reine Spekulation.
Zuweilen nervt Inarritu ungeheuerlich, wenn er seine vielen Themen zunehmend nur anreißt, sie dann aber in gefühlsduseligen Monologen so wichtig nimmt, dass es einem vorkommt, ein paar wichtige Szenen vergessen zu haben, weil nichts und wieder nichts so richtig Sinn ergibt. In zwar bedingungslos brillanten Bildern will er über etwas sprechen, von dem er selbst nicht weiß, wie man es ausspricht – und weiß er es doch, fehlt es ihm an Gespür für den richtigen Tonfall und endet dort, wo auch Hollywood längst angekommen ist: im Einerlei.
Riggans Tochter Sam (Emma Watson) etwa hält ihrem Vater einen langen, mit üblem Grimassen gespielten Monolog über den Fortschritt der Welt und stellt sich in ihrer manischen Art über einen ohnehin Gescheiterten. Das wirkt nicht nur betont bedeutungsschwanger, es ist einer von vielen Momenten, in denen Birdman ein Film ist, der sich seiner Schwächen nicht bewusst ist und erhobenen Hauptes weiter erzählt mit fast prahlerischer Selbstsicherheit. Das nervt.
Inarritu will provozieren, will Diskurse entfachen über all die Künstler, ist aber genau so belanglos wie das, was der Film anprangert, weil die hollywood’schen Mechanismen und die Überwindung zum unerschöpflichen Schauspieler immer nur nennt – nie aber erzählt. So verkommt Birdman trotz zwei fulminanter Hauptdarsteller zu dem, was für einen Film solcher Machart so etwas wie ein Genickbruch darstellt: eine Demonstration von Überheblichkeit.
Birdman, 2014 USA – Regie: Alejandro Inarritu – Drehbuch: Alejandro Inarritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris Jr., Armando Bó – Darsteller: Michael Keaton, Edward Norton, Emma Stone, Zach Galifianakis, Naomi Watts – Kamera: Emmanuel Lubezki – Musik: Antonio Sánchez – FSK 12 – Laufzeit: 119 Minuten