Derzeit macht eine Werbeanzeige die Runde, die für Staunen sorgt.
In der Anzeige zu Anthem heißt es oben rechts:
„Gewinner von mehr als 90 Awards“
Das ist witzig, weil Anthem bei Metacritic derzeit auf einen Durchschnittswert von 60 Prozent kommt. Wie weit man von einer Zahl weg sein kann, die theoretisch Awards ermöglicht, zeigt Anthem also ziemlich gut. Woher kommen dann die Preise, wenn sie nicht durch Testberichte zustande kamen? Besonders die englischsprachige Presse verleiht häufig „Best of E3“-Awards, also Preise dafür, wie geschickt Hersteller ihr Spiel auf einer Werbeveranstaltung zeigen. Im Laufe einer zweijährigen Berichterstattung kann der Publisher – in diesem Fall Electronic Arts – bereits vor Release ein Preis-Regal bereitstellen, obwohl kein Journalist weltweit auch nur eine einzelne Sekunde gespielt hat.
Die deutschsprachige Presse ist diesem Wahnsinn nicht gänzlich verfallen. Sie hat dennoch ihren Anteil. Und der ist nicht klein, wenn man genau hinschaut.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte die GameStar ein Video mit dem Untertitel „Auf diese Games könnt ihr euch freuen“. Teil davon: Anthem. Unkritisch werden Details zum Spiel aufgesagt, dazu untermalen hübsche Bilder das Geschehen. Eingeordnet wird nichts, denn die Wertung, die Vorab-Wertung ist schon längst klar: Anthem wird ein „Top 10 Game“.
Das ist erneut witzig, weil Anthem eher in der „Flop 10 Games“-Liste landen könnte – bei einer derzeitigen Wertung von 67 Prozent.
Zur Spielemesse E3 titelt die GameStar 2017 über Anthem:
„Sieht so das Spiel der Zukunft aus?“
Es sei „das spannendste Spiel der Show“, findet die Redaktion. Im Video selbst sprechen die Redakteure zwar durchaus kritisch über Anthem (im Sinne von: Ein Multiplayer-Spiel von Bioware, was soll das?), doch im nächsten Atemzug wird das bereits relativiert mit Sätzen wie „Das wirkt wie eine Szene aus einem Star-Wars-Film“ und „Ich fand es beeindruckend, wie detailliert das war“.
Zur Einordnung dieser Worte ist wichtig zu wissen, dass die E3 die größte Werbeveranstaltung der Videospielbranche ist. Dort gehen Hersteller und Entwickler auf die Bühne, zeigen entweder zuvor aufgezeichnete Präsentationen oder zurecht gemachte Trailer, die eine vermeintlich schon jetzt Realität gewordene Pixelkunst darstellen sollen, die mit dem fertigen Ergebnis jedoch nichts gemein hat. Beispiel? Anthem. Dass die GameStar-Redaktion zur Ankündigung, ohne eigene Anspiel-Erfahrungen oder gesehene Präsentationen die Diskussion um Anthem damit beginnt, dass dieses potenzielle Spiel der Zukunft das spannendste Spiel der Show sei, ist mindestens befremdlich.
Die Berichterstattung zu Anthem zeigt indes hervorragend, wie Redaktionen funktionieren, wenn sie zweifeln. Denn Biowares neues Spiel schien nicht dem Ruf eines Bioware-Spiels gerecht zu werden – um das zu erkennen, musste man kein Spielejournalist sein.
Die GamePro-Redaktion verdeutlicht das: So richtig wisse man ja noch gar nicht, wie es zum Beispiel mit Langzeitspaß oder Abwechslung aussehe. Und dennoch endet eine Vorschau zu Anthem nicht (sinngemäß) mit den Worten: Leuteleuteleute, Vorsicht, ihr solltet skeptisch bleiben, nein, die Vorschau endet so: GamePro will sich in den Lootrausch stürzen, weil die Vorfreude überwiegt.
Wie unkritisch die vermeintlich kritischen Anmerkungen sind, verdeutlicht GamePro gleich selbst: Lob, selbst wenn es nur auf einer 15-minütigen Anspielzeit beruht, wird brutal geil gesteigert.
- Anthem macht Spaß. Aber nicht nur das: Es macht „verdammt viel Spaß“.
- Das Fliegen ist nicht nur cool, sondern: Man kann „nicht genug davon bekommen“.
- Die Spielelemente in Anthem sorgen nicht nur für gute Laune, sondern für: „einzigartigen Spaß“.
- Anthem entfacht kein gutes Gefühl, sondern ein: „unglaublich tolles Gefühl“.
- Und dazu läuft Anthem nicht flüssig oder gut, sondern: „unglaublich flüssig“.
Und im Vergleich dazu die Wischiwaschi-Zweifel (die ja ohnehin im nächsten Absatz der Vorschau weggeredet werden):
- Ob sich der Langzeitspaß auf den Rest des Spiels übertragen lässt, weiß man ja noch nicht.
- Story-Fitzelchen und Charaktere haben gefallen und waren interessant, aber ob es ein richtiges Bioware-Spiel wird, lässt sich nicht sagen.
- Schwer abzuschätzen ist ebenfalls, wie abwechslungsreich die Missionen sein werden.
Eine Frage: Warum wird das ins unendlich gesteigerte Lob so betont, wenn doch gar nicht klar ist, ob der unglaublich tolle Spaß nicht nach fünf Minuten schon wieder verfliegt?
Bei Gameswelt schrieb man ebenfalls über Anthem, nämlich so:
Der Genre-Primus Destiny soll sich also warm anziehen, weil Anthem einen tollen Eindruck mache, imposant sei und einfach launig aussehe. Worauf basiert dieses Urteil? Auf einer Präsentation. Selbst gespielt hat die Redaktion nichts.
Gameswelt geht sogar noch weiter, mit einer Vorschau, die jeder Grundlage entbehrt.
Anthem also, mit einer durchschnittlichen Wertung von 60 Prozent, mit fast durchweg schlechten oder mäßigen Rezensionen bei etlichen Magazinen, dieses ziemlich gefloppte Anthem soll die „unnachahmliche Bioware-Magie“ versprühen, obwohl das eines der häufigst genannten Kritikpunkte war: Dass Anthem eben nichts mehr mit Bioware zu tun hat!
Stichwort: Suchmaschinenoptimierung. Wenn zu einer Messe wie die E3 dutzende Magazine gleichzeitig über die gleichen Spiele berichten, muss man auffallen. Headlines wie „Top 10 Spiele der E3“ sind immer gut, das weiß die PC Games, auch wenn die journalistische professionelle irgendwie geartete Distanz verloren geht, schließlich muss man so etwas schreiben wie:
„auf diese zehn Spiele-Highlights können sich PC-Spieler freuen“
(eigentlich ist ja noch gar nicht klar, ob sich PC-Spieler darauf freuen können, aber man will halt eine Contentschleuder sein)
Für Google mag es geil gewesen sein, als PC Games titelte: “ die besten neuen PC-Spiele 2018″, die die Redaktion in einem Video vorstellten.
Doppelt doof: Anthem ist nicht im Jahr 2018 erschienen. Und eines der Besten ist es auch nicht, wenn man der Wertung von PC Games glauben darf.
Und bei GamersGlobal klingt das Loblied auf Anthem so:
Einige der zitierten Magazine erheben an sich selbst einen journalistischen Anspruch. Sie wollen fair und sachlich über Videospiele schreiben, hintergründig und differenziert. In der jetzigen Form der Berichterstattung ist das allerdings nicht möglich. Das Beispiel Anthem und eine ziemlich freche Werbeanzeige könnten das besser nicht verdeutlichen. Aus kurzen Videos und Präsentationen ziehen die Redaktionen Schlüsse, die am Ende nicht nur ein bisschen daneben, sondern schlicht falsch waren.
Und ja, Eindrücke wandeln sich; ein Redakteur kann eine Präsentation sehen und begeistert davon sein. Doch wer danach vergisst, dass es sich um Werbematerial handelt, um langgezogene Trailer, die oftmals keine Sekunde die Realität des Spiels zeigen, der ist sicherlich vieles – aber kein (Spiele)Journalist.
Sondern Zitat- und Award-Zulieferer für Werbeanzeigen.
Drüben bei Spielkritik habe ich etwas ausführlicher über Previews und Hype geschrieben: