Medienkritik

The Last of Us 2 und die Spielepresse: Mit der Achterbahn in die Magengrube

„Ideenlos“ und „platt“ sei der Spielejournalismus, schrieb der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der GameStar Christian Schmidt vor neun Jahren bei SPIEGEL ONLINE. Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Berichterstattung über vermeintlich tiefsinnige Meisterwerke legt nahe: geändert hat sich seitdem nichts. Im Gegenteil.

Bereits eine Woche vor der Veröffentlichung von The Last of Us 2 überschlug sich die Spielepresse mit den blumigsten Adjektiven; ein Meisterwerk ist erschienen. Mal wieder.

Ein Kommentar auf Gewalt soll das Spiel von Naughty Dog sein, sich sogar „philosophisch“ mit dem Thema beschäftigen. Unabhängig von der Beurteilung spielmechanischer Funktionen wird also die Interpretation jener Gewaltspitzen die Kritiken dominieren.

Oder?

Nicht ganz. Im Clinch mit Stilblüten und Phrasen baumelt der Spielejournalismus kopfüber aus der emotionalen Achterbahnfahrt, die im immer gleichen Ablauf rödelt. Am Beispiel von The Last of Us 2 will ich das verdeutlichen.

(Sofern nicht anders angegeben, stammt jedes hier angegebene Zitat aus einem der vor Release veröffentlichten Testberichte zu The Last of Us 2. Am Ende des Artikels verlinke ich jeden einzelnen Text.)


Ein Blick auf die Überschriften verrät die Euphorie der Spielejournalist*innen.

gamepro-lastof2
(Gamepro.de)

4players-lastof
(4Players auf YouTube)

ingame-lastof2
(Ingame.de)

pcgames-lastof2
(PC Games.de)

playcentral-lastof2
(Playcentral.de)

gameswelt-lastof2
(Gameswelt.de)

computerbild-lastof2
(Computer BILD)

giga-lastof2
(GIGA Games)

Der Tenor ist deutlich: The Last of Us Part 2 meisterwerkelt in augentrocknender Höhe, die uns den Schlaf stiehlt. Jeder dieser unabhängig voneinander geschriebenen Testberichte geht individuell auf die Gründe dafür ein – indem jede Redaktion fast das gleiche schreibt.

The Last of Us 2 spielt nämlich in der kühnsten Attraktion zwischen Pixel und Presse: der Achterbahn.

„Eine solche Achterbahn der Emotionen habe ich selten zuvor erlebt.“ GamePro

„Die wohl platzierten Rückblenden und aufatmen lassenden Lichtblicke zwischen all dem Dunkel der Spielwelt stürzen uns beim Spielen in eine emotionale Achterbahnfahrt, halten uns aber wohl umklammert in Ellies Realität gefangen.“ Playcentral

„Der zweite Teil ist dabei eine emotionale Achterbahnfahrt, die mir oft die Tränen in die Augen getrieben hat.“ GIGA Games

„Dieses Spiel macht keine gute Laune, sondern nimmt euch, lieb gewonnene Charaktere wie Ellie und Joel und neue Figuren auf eine emotionale Achterbahnfahrt.“ Play3

„Ein zu Wasser gelassenes, schaukelndes, leeres Ruderboot mit Außenbordmotor. Das ist alles, was der Spieler im Hauptmenü zu sehen bekommt – mehr Understatement ist kaum vorstellbar. Was darauf folgt, ist eine emotionale Achterbahnfahrt in einem der meisterwarteten Konsolenspiele der vergangenen Jahre […]“ Games Wirtschaft

„Erleben solltet ihr „The Last of Us 2“ auf jeden Fall und euch auf eine absolut einzigartige Achterbahn der Gefühle einlassen, die mit euch durch eine tiefgreifend erzählte, loopingdurchsetzte und facettenreiche Story fährt.“ Playcentral

„Viele Spiele haben Beziehungen und Gewalt thematisiert. Aber es gibt keines, dass diese Art der Perspektivwechsel und diese emotionale Achterbahnfahrt inszeniert, so dass man über Männer und Frauen, Täter und Opfer, Fanatismus und Rache reflektiert.“4Players

„Aber die Regie schmeißt euch nicht sofort in diese wilde emotionale Achterbahnfahrt – sie lässt sich Zeit dabei, damit euch erst langsam flau im Magen wird.“ – 4Players

„Die Story und die damit einhergehende emotionale Achterbahnfahrt ist so nur als Videospiel möglich, da man sie eben selbst erlebt.“PC Games

Drunter und drüber geht es also in der Geschichte des Spiels. Falls sich jemand ob der Verwendung von „Achterbahnfahrt“ wundert, das schon mal gehört zu haben, dem sage ich: ja. Einfach ja.

Für GamePro ist Uncharted 4 etwa eine „packende und emotionale Achterbahn“, genau wie Star Wars 7, und der Vorgänger The Last of Us ist ein „Emotions-Achterbahn-Simulator“, ganz genau wie die „emotionale Achterbahnfahrt“ in Tribute von Panem Mockingjay, die ähnlich emotional ist wie die von Evolve, und um das vorwegzunehmen ist natürlich auch The Order 1886 eine Achterbahn, die allerdings nicht an den „Nervenkitzel wie bei einer Achterbahnfahrt“ heranreicht, die GamePro bei Resident Evil 4 erlebt hat – und Metal Gear Solid 4, denkt hier jemand auch mal an Metal Gear Solid 4, die „unglaubliche Achterbahnfahrt der Gefühle“?!

Sprengt es den Rahmen, wenn ich die Achterbahnfahrten erwähne, die PC Games unter anderem bei A Plague Tale, Alpha Protocol, Split/Second, Trackmania Turbo, The Last Guardian und den Filmen Rampage, Valerian und 127 Hours erlebt hat? Oder soll es ich dabei belassen und Gameswelt, 4Players und Ingame aussparen, die ihrerseits Achterbahnfahrten fuhren in Silent Hunter 2, Fallout 4, Pinstripe, Uncharted 3, Asura’s Wrath, Splinter Cell Conviction, Bayonetta 2 und Until Dawn?

Wer macht sich üblicherweise gemein mit der Achterbahnfahrt? Genau, der Magen, wie bereits 4Players schrieb:

„Aber die Regie schmeißt euch nicht sofort in diese wilde emotionale Achterbahnfahrt – sie lässt sich Zeit dabei, damit euch erst langsam flau im Magen wird.“

Bei GamePro brodelt es ebenfalls:

„Im Laufe der Story von The Last of Us 2 erreiche ich eine erschütternde Stelle, bei der mir richtig flau im Magen wird.“

Und bei Gamereactor Deutschland ziept es im Bauch:

„Die gezeigte Brutalität ist grenzwertig und hinterlässt ein unangenehmes Gefühl im Magen.“

Die österreichische Zeitung „Der Standard“ wuchtet sich ins Spielgeschehen:

„Und das teils mit Wendungen, Berührungspunkten und wunderschönen Cutscenes, die nicht nur zu Tränen rühren, zum Lachen bringen, sondern auch immer und immer wieder mit voller Wucht in die Magengrube schlagen.“


Wer nicht deutlich genug beschreibt, wie schlimm, also schlimm The Last of Us 2 die Journalist*innen auf dem falschen Fuß getroffen hat, tippt in der falschen Branche. Was alle Redaktionen eint: die Fähigkeit, auch mal inne zu halten. Ohne Controller.

„Es gibt Momente, die waren so überraschend, so schlimm oder so eindringlich, dass ich den Controller zur Seite legen musste. Manchmal hatte ich Angst vor dem, was als Nächstes kommt. Manchmal wollte ich eine gerade erlebte Situation einfach mal sacken lassen.“ – 4Players

Auch GamePro berichtet von der Gewaltfront namens The Last of Us 2:

„Nach einer langen, spannenden Spielsession muss ich den PS4-Controller erstmals nicht nur beiseite legen, um etwas zu essen oder zu trinken. Ich muss das Fenster weit aufreißen, um frische Luft zu schnappen.“

Frische Luft, ein wiederkehrendes Thema im GamePro-Test:

„Im Laufe des Abenteuers erreiche ich eine Stelle, die mich komplett überrascht. Die mich mit einer derartigen Härte überrumpelt, dass mir tatsächlich der Atem stockt, ich den Controller erst einmal weglegen und das Fenster weit aufreißen muss.“

Nicht nur aufreißen, sondern gänzlich destruktiv geht Heise vor:

„In einigen besonders bösen Momenten würde man das Gamepad lieber aus dem Fenster schmeißen, als den Anweisungen des Spiels zu folgen.“

Nur beinahe hechelt PC Games wie die Kolleginnen und Kollegen am Fenster nach frischer Luft:

„The Last of Us: Part 2 streut zwar immer wieder kleine leichtherzige Momente ein, ist ansonsten aber durchgehend bedrückend und konfrontiert einen immer wieder mit Szenen, die eine solche emotionale Wucht haben und so eine Schwere verströmen, dass man das Gefühl hat, den Controller kaum noch in der Hand halten zu können.“

IGN Deutschland meldet sich zu Wort. Mit Worten. Mit unglaublichen Worten.

„Über dieses Spiel zu sprechen, ohne wirklich über entscheidende Elemente sprechen zu dürfen, macht es bei diesem Test umso schwerer die passenden Worte zu finden. Worte für eine Erzählung, die in mir so unglaublich viele Emotionen ausgelöst hat, dass ich im finalen Akt mehrmals den Controller weggelegt und die geforderten Quicktime-Moves verweigert habe.“

Eurogamer Deutschland formuliert es anders:

„Naughty Dog tut alles – und noch ein bisschen mehr – dafür, dass man immer wieder aufs Neue Vergeltung sucht, bis man sich wünschen würde, den Controller einfach zur Seite legen zu können, damit die Figuren den Konflikt unter sich ausmachen, vielleicht einen besseren, klügeren Weg fänden als den, der vor dem Spieler liegt.“

Eine mutige Redaktion stellt sich dem Freihand-Journalismus entgegen:

„Jede einzelne Figur in The Last of Us 2 – und davon gibt es dank narrativer Tricks des Entwicklers eine ganze Menge – ist komplex und verwandelt die ansonsten recht simple Rachegeschichte zu einem Meisterwerk des Storytellings, das bis zur letzten Cutscene an den Controller fesselt.“ Ingame.de

Und die Moral von der Geschicht‘: Bist du echt schockiert, brauchst du den Controller nicht.


Abgetrennte Köpfe und durchgeschnittene Kehlen sind übrigens deep.

„Dafür wird man auf eine knallharte, emotional aufwühlende Reise mitgenommen, die zum Nachdenken anregt.“ – PC Games

„Anfang und Ende der Geschichte haben mich wirklich mitgerissen, berührt und zum Nachdenken gebracht.“ – Gameswelt

„Gewaltiges Solo-Epos, das zum Nachdenken anregt“ – Gamersglobal

Wer genau nachdenkt, mag vielleicht anregen: Teil 1 war auch schon so krass tiefsinnig.

„TLOU regt zum Nachdenken an […]“ – PC Games über The Last of Us 1

„Naughty Dog lädt immer wieder zum Spazieren und Nachdenken ein.“4Players über The Last of Us 1

Über Teil 2 kann man mit Gewissheit sagen:

„The Last of Us 2 ist harter Tobak.“ – Ingame

„Echt starker Tobak.“ – Spieletipps

Ein Videospiel in einer Zombie-Apokalypse erinnert 4Players indes an eine andere Zombie-Apokalypse:

„Die Schonungslosigkeit erinnerte mich an die TV-Serie The Walking Dead, aber das hat mein Erlebnis eher intensiviert als gedämpft.“

Ein seltener Gedanken – also, zumindest bis ein anderes Magazin eine Zombie-Apokalypse ebenfalls mit einer anderen Zombie-Apokalypse vergleicht.

„Es ist in seiner Darstellung und Erzählweise drastisch, schroff und gnadenlos. Ganz ähnlich wie in der TV-Serie „The Walking Dead“ werdet ihr hier Zeuge, wie eine Gesellschaft an einer Katastrophe zerbricht.“ Play3 über The Last of Us 1

Bei einem Spiel wie The Last of Us Part 2 muss ein vernünftiger Testbericht das herausragende Schauspiel erwähnen, und das geht natürlich nur mit Schiebung, Bewusstseinsschiebung nämlich.

„Ihre inneren Konflikte werden dabei von Schauspielerin und Synchronsprecherin Ashley Johnson so glaubhaft vermittelt, dass ich mich in fast jeder Situation tatsächlich in sie hineinversetzen kann.“ – Gamepro

„So trägt das Gameplay oft direkt zur Dramatik der Handlung bei, sodass wir uns als Spieler sehr gut in die Figuren hineinversetzen können.“ – Spieletipps


In der Geschichte von The Last of Us 2 ist Rache eines der prägenden Motive. Zumindest schreibt das die Spielepresse. Die gesamte Spielepresse.

„Während es im Vorgänger um Zusammenhalt und Liebe ging, sind die zentralen Motive im Nachfolger Hass und Rache.“ – Gameswelt

„War der Vorgänger noch ein melancholisches und stark emotionales Drama, in welchem als treibendes Element doch immer auch die Hoffnung mitschwang, ist TLOU2 ein blutiger Rache-Thriller, der den Spielern erbarmungslos die tiefsten menschlichen Abgründe präsentiert.“ – Spieletipps

„Hass, Trauer, Liebe – alles kommt vor und wird gleichsam erdrückend glaubhaft und eben nicht überzeichnet oder gar albern präsentiert.“ – Chip

„TLOU II erzählt eine tolle Geschichte voller Liebe, Rache und Vergebung.“ – DerStandard.de

„[…] Jeder Hinweis auf Schauplätze, Figuren und Verläufe würde viel von der Spannung vorwegnehmen. Nur so viel: „Rache“ ist eines der ganz wesentlichen Motive dieses Spiels.“ – Gameswirtschaft

„Der zweite Teil ist dabei in erster Linie eine düstere Rachegeschichte, jedoch eine, die sich gewaschen hat.“ – GIGA Games

„Perfekt inszenierte Rachegeschichte“ – Play3

„Zusammen mit Dina spürt sie die Söldner im nahegelegenen Seattle auf und eine brutale Rachegeschichte nimmt ihren Lauf, die vor Tabuthemen, Gewalt und Melancholie nur so strotzt.“ – Ingame

„Rachegeschichte voller Hass und Herz“ – GamePro

„Das hält Ellie aber nicht von ihrer Mission ab. Für die rund 25 Stunden lange Story wird Seattle zum Haupthandlungsort für ihren unbeugsamen Rachetrip.“ – GamePro

Wer mehr Vielfalt in der Beschreibung von Rache sucht, wird bei jenen Magazinen fündig, die schreiben, nicht nur Rache sei Teil des Spiels.

„“The Last of Part II“ erzählt allerdings keineswegs eine plumpe Rachestory.“ – Games.ch

„Damit stellt The Last of Us 2 die Weichen für eine düstere und brutale Rachegeschichte, deren Kern aber das genaue Gegenteil ist.“ – GamePro

„Neil Druckmann und sein Team haben die Geschichte bis in den letzten Twist durchchoreographiert und so ein Meisterwerk für die Ewigkeit geschaffen, das aus einer vermeintlich simplen Rachegeschichte ein emotionales Spiel der Perspektiven erschafft, in dem jede Figur von Bedeutung ist.“ – Ingame

„Steigt man in die Story der Fortsetzung ein, scheint zunächst alles recht unkompliziert gestrickt und problemlos nachvollziehbar. Keine abgedrehten Verzweigungen, ein übersichtlicher Plot, Rache als Antriebsmotor des Geschehens. Klassisch, aber wirksam. Innovativer und umso grandioser ist die Art und Weise der Erzählung und wohin sich diese im Anschluss an unsere Reise nach Seattle entwickelt.“ – Playcentral

„Akustisch und musikalisch wird diese Rache-Geschichte, in der es an der Oberfläche ja nur um Hass und Vergeltung geht, sehr gut mit ruhigen, melodischen Klängen verstärkt.“ – 4Players

In der einen Hälfte der Testberichte dient Rache als Aufhänger für Headline und mehrere Textabsätze, die andere Hälfte schreibt, es gehe über Rache hinaus. Eine ausgewogene, differenzierte Berichterstattung, könnte man meinen – zumindest bis man merkt, dass dennoch alle das gleiche sagen.

In der vermeintlichen Interpretation der Gewalt und Rache ist in vielen Tests folgendes zu lesen:

„Denn in TLoU2 ist nichts so, wie es scheint, nichts ist schwarz oder weiß. Es ist nicht der klassische Kampf von Gut gegen Böse, die Grenzen verschwimmen vielmehr.“ – Playcentral

„Ellie und der Spieler stellen sich wiederholt selbst in Frage, sodass eine anfängliche Schwarzweiß-Malerei verwischt und die Welt und die Handlung immer mehr zu einem bedrückenden tristen Grau verschwimmen.“ – Spieletipps

„Dabei wird kein Schwarz und Weiß propagiert: es wird auf hervorragende Art differenziert.“ – 4Players

„The Last of Us: Part II ist in seiner Erzählweise und Darstellung außerordentlich unbequem, denn es unterteilt nicht in Gut und Böse oder Richtig und Falsch.“ – Gameswelt

„Die Trennlinien zwischen Gut und Böse verschwimmen zunehmend, sodass sie am Ende nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.“ – Spieletipps

„Gibt es in so einer Endzeit-Welt Gut und Böse? Das muss jeder Gamer auf seiner emotionalen Reise selbst entscheiden!“ – Computer BILD

„Freund oder Feind, richtig und falsch sind keine kardinalen, absoluten moralischen Bestimmungen, sondern folgern oft genug nur aus allzu menschlichen Handlungen und Regungen. „Du und die Anderen“ anstatt „Gut und Böse“.“ – Eurogamer

„Gut oder Böse, richtig oder falsch? Haben solche Dinge noch ihre Gültigkeit, wenn einen das Verlangen nach Gerechtigkeit antreibt, oder ist es eher Rache, die einen zu Fehlentscheidungen verleitet?“ – Playfront

„Schwarz und Weiß, Gut und Böse, alles eine Frage des Blickwinkels – ein Narrativ, das „The Last of Us Part 2″ auch mit dem Stilmittel des Perspektivwechsels zu erklären versucht.“ – Heise

„Entdecke eine emotionale Story, die dein Verständnis für Richtig und Falsch auf die Probe stellen wird.“

„Tauch ein in eine durch Ellies rachsüchtiges Handeln ausgelöste Abwärtsspirale aus Gewalt und moralischen Konflikten. Ihre brutalen und erbarmungslosen Ausbrüche lassen die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und schon bald fällt es zunehmend schwerer, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden.“

Die letzten beiden Zitate stammen übrigens nicht von Journalistinnen und Journalisten – sondern von Sony.

In einer Branche, in der ein ehemaliger PR-Manager als „Journalist“ über die Spiele des ehemaligen Arbeitgebers schwärmen darf, in einer Branche, in der der Chefredakteur des deutschlandweit größten Spielemagazins unverhohlen darüber spricht, wie wichtig es ihm sei, dass Spielehersteller seiner Redaktion vertrauen, in einer Branche, in der vermeintliche Journalistinnen und Journalisten blind jedem polierten Marketingvideo glauben, in dieser Branche ist das Kuscheln von Marketing, PR und Presse keine Überraschung. Es ist ein offenes Geheimnis.

Eine Analyse, die über Buzzwords hinausgeht, ist dabei selten zu finden. Denn natürlich können sich Marketing und Kritik überschneiden, zumindest in der bloßen Erwähnung gewisser Mechaniken, Motive und Funktionen; allerdings ordnet kaum ein Testbericht das Gut-Böse-Schema weitergehend ein, es fehlt eine fast vollständige Interpretation der Ereignisse.

Wenn ein Spiel besonders deep in der Erzählung sein soll, tapst das ehemals unschuldige Medium in ein reifes Alter: Spiele werden erwachsen.

„Immer wieder wird über Spiele gesagt, sie seien „erwachsen“. Wenn ich je ein Spiel erlebt habe, das „erwachsen“ ist, dann ist es The Last of Us Part 2.“ – GamePro

„Wenn ich an ein komparatives Adjektiv denken muss, das den Unterschied zwischen Teil eins und zwei am besten beschreibt, dann würde ich sagen: „TLOU2 ist erwachsener.““ – Spieletipps

„Die Story ist hierbei wieder sehr erwachsen und spart auch ernste Themen nicht aus.“ – Computer BILD

„Eins ist klar: „The Last of Us 2“ ist ein Spiel für Erwachsene.“ – Play3

Zum Glück hat sich diese Beschreibung über die Jahre nicht abgenutzt.

„„The Last of Us“ ist anspruchsvolle Erwachsenenunterhaltung.“ Play3 über The Last of Us 1

„Auch wenn das Echo von Uncharted immer wieder mit kleinen Rudimenten durch dieses lineare Abenteuer hallt, besitzt The Last of Us eine wesentlich erwachsenere Ansprache und reifere Dramaturgie.“ 4Players über The Last of Us 1

Dark Souls und Yakuza 2, Catherine und The Path, The Witcher und Dragon Age Origins haben nach Meinung von Play3 und 4Players ebenfalls das Etikett „erwachsen“ verdient, das Rennspiel Blur sei ein Mario Kart für Erwachsene, wie Gameswelt schreibt, und was genau zu dieser Bewertung führt, ist dann eigentlich auch egal.


Die Unfähigkeit, die narrativen Ereignisse des Spiels ohne Plattitüden wohlfeil in einem Text zu interpretieren, führt zu einem beliebten Stilmittel: Fragen stellen. Fragen täuschen einen Tiefsinn vor, wo nie einer geliefert wird – und vermutlich gar keiner ist.

„Was will Ellie mit ihrer Reise erreichen? Wir sind uns da nicht mehr sicher. Was anfangs noch so einfach war, wird zunehmend komplizierter. Das scheint Ellie gar nicht zu bemerken. Ist sie bloß ein Opfer in der endlos langen Gewaltspirale oder hält sie den Teufelskreis selbst am Laufen? Das Urteil wird uns überlassen.“ – IGN Deutschland

„Wie weit würde man für seine Freunde und Familie gehen? Was tut man seinen Feinden an? Kann man noch in den Spiegel schauen, wenn man selbst zum Killer wird? Zerstört die Rachlust letztlich die Menschlichkeit – und die Fähigkeit zu lieben?“ – 4Players

„Bin ich wirklich der/die Gute in dieser Story? Klingt absurd, nicht wahr?“ – GamePro

„Wie weit trägt Hass? Wann ist es Zeit für Vergebung? Was passiert, wenn man nicht vergibt?“ – Gamersglobal

Antworten gibt es darauf meist nicht. Der Tenor ist klar: Wir interpretieren nicht – sondern spielen nur. Bei vermeintlich ähnlich komplexen (oder plakativen) Spielen wie Deus Ex, Beyond Two Souls oder Detroit Become Human, die eine kritische Einordnung fernab jeder spielmechanischen Bewertung benötigen, lässt sich ähnliches beobachten.

Erschreckend wenig haben die Redaktionen zu sagen. Das, was sie dann tatsächlich sagen, sind die banalsten Erkenntnisse aus einem vermeintlich interessanten Spiel.

„Das [die Grausamkeit des Spiels] ist aber gleichzeitig notwendig, um eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Gewalt ist ein Teufelskreis, der nur zu noch mehr Gewalt und damit zu unendlichem Leid führt.“ – GamePro

Gewalt ist schlimm. Halleluja! Ein journalistisches Medium, das in einer Kritik nicht über diese These hinauskommt, muss sich fragen, warum derlei Texte mehr nach einem längeren Text aus der Marketing-Abteilung klingen – und nicht nach einer Einordnung, die das Erlebte mit mehr als „puh, jetzt mal frische Luft“ beschreibt.

Sollte das das Fazit sein aus 30 Stunden Spielzeit bei einem Titel wie The Last of Us 2, das so vehement das Thema Gewalt hinterfragen will – egal, wie gut oder schlecht das funktionieren mag -, kommen sowohl Kritikerinnen und Kritiker als auch das eigentliche Spiel nicht über Bierdeckel-Analysen hinaus. Christian Schmidt schrieb vor neun Jahren über die Beteiligten der deutschen Spielkritik:

„Ihr journalistisches Niveau ist schwach, der Grad an intelligenter Reflexion erschreckend gering.“

Eine „relevante Games-Kritik“ brauche eine „neue Ausrichtung“, heißt es. Und weiter:

„Sie muss intelligenter werden, sie muss die Funktionsbeschreibung zurückschrauben zugunsten der Interpretation. Sie muss ihre funktionalen Urteile über Spiele ergänzen durch ökonomische, politische, ethische, künstlerische und gesellschaftliche Urteile.“

Allein: es fehlt der Wille dafür. In einigen der Testberichte formulieren die Testerinnen und Tester kluge, unmittelbare Gedanken und Gefühle, nutzen dafür aber die stets gleichen, dödeligen Phrasen. Dass durchaus spannende Ansätze in Texten von GamePro, 4Players oder Eurogamer durch das Test-Stakkato entwertet werden, ist ein strukturelles Problem im Spielejournalismus, das durch die Gleichheit im Konzept der Artikelform seit Jahrzehnten weiter zementiert wird. Kurz: wer Furioses erahnen lässt, versandet davor und danach in trister Gleichförmigkeit in der Bewertung von Sound, Story, Grafik und Bosskämpfe – willkommen im Spielejournalismus.

Ausnahmslos jeder Testbericht zu The Last of Us Part 2 entspricht dem typischen Format: Das Auserzählen jedweder Mechanik. Beginnt der Test von 4Players anfangs mit der ruckeligen, doch spannenden Erzählung über Feindbilder und Beziehungen, bestimmt die Nacherzählung der Feature-Liste den restlichen Bericht.

Von diesem Konzept weicht kaum ein Magazin ab. Wie schreiben sie zum Beispiel über die Musik?

„Die erneut geniale Musikuntermalung macht dabei jede Situation im Spiel noch mal packender, emotionaler und einfach besser.“ – PC Games

„Die Musik wird sparsam, aber sehr treffend eingesetzt: Komponist Gustavo Santaolalla liefert nicht bloß eine Untermalung, sondern trägt mit dem richtigen Gespür für gefühlvolle wie dramatische Themen einen wichtigen Teil zur emotionalen Stimmung bei.“ – Gameswelt

„[…] stimmungsvoller, musikalischer Untermalung […]“ – Playcentral

„Wer das erste Spiel kennt, darf sich auch im zweiten Part wieder auf melancholische Gitarrenklänge freuen, die allgemein von sehr ruhigen und zurückhaltenden Musikstücken begleitet werden und das gesamte Setting in eine beklemmende Stimmung hüllt.“ – Playfront

Was kann lässt sich über die Spielmechanik sagen?

„Spielerisch gibt sich Naughty Dog keine Blöße und designt einen klugen Mix aus Survival, Erkundung und brutaler Hit-and-run-Action, der seine bestürzend authentisch verrottende Welt bis in die letzten Winkel ausfüllt.“ – Eurogamer

„Spielerisch geht The Last of Us: Part II fast den gleichen Weg wie sein Vorgänger. Entdecken, Schleichen und Kämpfen bilden auch mit Ellie die Eckpfeiler des Ablaufs. Gerade das Erforschen der Welt nimmt aber einen größeren Platz ein, denn die Gebiete fallen deutlich größer aus. Es lohnt sich aus verschiedenen Gründen, jede Ecke genau zu untersuchen.“ – Gameswelt

„Auch The Last of Us 2 setzt auf einen Mix aus Stealth-Gameplay mit Survival-Elementen und actiongeladenen Shooter-Parts. Die Grundmechaniken des Spiels bleiben dabei erhalten.“ – Ingame

Wie sieht das Crafting-System aus?

„Hilfsmittel wie Medikits und Schalldämpfer werden direkt im Spiel in Echtzeit gebaut, also ohne das Geschehen zu pausieren. Waffen hingegen werden an Werkbänken verbessert, die sich überall in der Spielwelt verteilen. Mit der nötigen Anzahl Waffenteile bekommt das Jagdgewehr dann beispielsweise ein nützliches Zielfernrohr.“ – Gamepro

„Aber man findet natürlich nicht nur ein paar Zettel mit Informationen, sondern auch jede Menge brauchbare Gegenstände und Materialien, denn genau wie im Vorgänger gibt es ein simples Crafting-System. Ellie sammelt Lumpen, Alkohol, Behälter oder auch Scheren, um aus diesen Materialien verschiedene nützliche Gegenstände herzustellen. Gegenstände wie Molotow-Cocktails, Verstärkungen der Nahkampfwaffe, Schalldämpfer oder auch einfach Medi-Kits benötigen zur Herstellung mehrere dieser Materialien.“ – PC Games

„Mithilfe von Ressourcen, die sinnvoll – wie in kaum einem anderen Videospiel – über die Spielwelt verteilt sind, stellt die nach Rache dürstende Teenagerin Rohrbomben, Schalldämpfer und allerlei weitere nützliche Upgrades her, die das Überleben enorm erleichtern.“ – Ingame

Und was ist mit dem Cast?

„Aber nicht nur Ellie erweist sich als hervorragende Figur. Der Großteil des diversen Casts von The Last of Us 2 besteht aus komplexen Charakteren, die allesamt menschlich, realistisch und greifbar wirken, sodass es einem gar nicht egal sein kann, was im Laufe der Geschichte mit ihnen passiert.“ – GamePro

„Neben den einmal mehr erstklassig inszenierten, cineastischen Zwischensequenzen in Spielgrafik, für die die schauspielerischen Künste unter anderem von Ellie-Darstellerin Ashley Johnson und Joel-Mime Troy Baker auch bei den Bewegungsabläufen per Performance Capturing ins Spiel übertragen wurden, sind es viele kleine Details. So zeigen alle wichtigen Figuren eine überaus ausgeprägte, realistische Mimik, an der wir ihre aktuelle Stimmungslage direkt ablesen können.“ – Games.ch

„Hier kommt einmal mehr das grandiose Schauspiel zum Tragen. Die mit Motion-Capturing eingefangenen Bewegungen und Expressionen in den Gesichtern der Darsteller sorgen für ein mitreißendes Seh- und Spiel-Erlebnis. Ashley Johnson (Ellie) und Troy Baker (Joel) kehren in ihren Paraderollen zurück und zeigen, was für tolle Darsteller sie sind und dass ihnen in Film und Fernsehen niemand etwas vormacht.“ – Spieletipps

Taktische Elemente, gibt es die auch?

„Und wenn ich schon von Taktik spreche: Wie in Left Behind ist es erneut möglich, Infizierte mit einem geschickten Steinwurf auf menschliche Gegner zu hetzen, um sich dann in aller Ruhe aus dem Staub zu machen.“ – GamePro

„Mit einer geworfenen Flasche oder einem Ziegelstein können Gegner auf eine falsche Fährte gelockt werden, damit Ellie sie auf leisen Sohlen umschiffen kann.“ – Gameswelt

Sie alle schreiben das gleiche. Es kann natürlich alles exakt so sein, vieles davon dient als bloße Beschreibung gewisser Mechaniken. Nur: Was sagt es über den Zustand der Spielkritik aus, wenn alle dem gleichen Muster folgen und dieses Muster aus der oberflächlichen, kontextlosen Bewertung besteht, die todesernst jeden verfluchten Schalldämpfer erwähnen muss? The Last of Us 2 mag ein brillantes Spiel sein. Darum geht es nicht (zumindest nicht allein). Vielmehr langweilt die Art der Texte: lediglich in Nuancen unterscheiden sich die Berichte – über ein Spiel, das angeblich so viel zu sagen hat.

Undenkbar scheint es, folgende Worte aus dem Vice-Text auch in einem deutschsprachigen Text zu lesen:

„Anger and grief are understandable motivations at the start of a revenge quest, but The Last of Us 2 never follows-through on the work of exploring what sustains them past reason and scruple. […] Every facet of the original game has been expanded and enlarged in the sequel, but not actually improved.“

Oder wie es im Text von Kotaku heißt:

„Despite Druckmann’s promised “philosophical questions,” I never felt like the game asked me anything. Instead, it told me “brutality,” repeatedly and louder, until by the end I couldn’t hear what it was trying to say at all.“

Während die deutschsprachige Presse mehrfach darüber schrieb, vor Erschöpfung und Begeisterung und Tiefsinnigkeit den Controller beiseite gelegt zu haben, schreibt Riley Macleod von Kotaku:

„Eventually, my numbness turned to an anger I’ve never felt about a video game. Late one night, I paused the game and asked myself aloud if the developers thought I was stupid, if they thought the existence of violence had just never occurred to me before.“

Das sitzt.

Ja, manch eine Redaktion erwähnt die Härte der Gewalt, sie sei beinahe „plakativ“, wie etwa Gameswelt schreibt. An der Lobeshymne ändert sich dadurch nichts. Ausnahmslos jeder Testbericht endet in spielejournalistischer Ejakulation.

Diverse Journalistinnen und Journalisten prophezeien eine Diskussion, die The Last of Us 2 auslösen werde. Sie selbst beteiligen sich daran nicht, weil sie schlicht keine interessante Perspektive liefern. Eine erstaunliche, neue Sicht muss nicht zwingend kritisch sein; ein bedeutsamer Gedanke über die Gewalt des Spiels kann eine Debatte fördern, ohne die wie auch immer geartete Bewertung zu beeinflussen – kurz: nur weil ein Text vermeintlich strittige oder skeptische Gedanken enthält, muss das kritisierte Spiel nicht schlecht sein. Interesse daran scheint nicht zu bestehen.

GamePro etwa schreibt abschließend im Test:

„The Last of Us 2 erhält trotzdem diese hohe Wertung, weil die sehr mutige Art, Storytelling und Gameplay so miteinander zu verweben, im gesamten Blockbuster-Bereich einzigartig und neu ist.“

Mit was für einer schieren Ignoranz Spiele wie Kane & Lynch 2 oder Hotline Miami oder Far Cry 2 oder Max Payne 3 ignoriert werden, damit das Märchen einer „einzigartigen“ und „neuen“ Erfahrung von Gewalt in Videospielen im Rahmen unermüdlichen Hypes aufrechterhalten werden kann. Sogar das offensichtlichste Beispiel Spec Ops: The Line wird für einen fahlen Vergleich in einem Fazit-Kasten am hintersten Ende verwurstet.

Dankbar muss man daher der Computer-BILD sein, die den Leserinnen und Lesern eine Einordnung liefert, die dem außergewöhnlichen Meisterwerk gerecht wird:

„Lediglich die Straßen von Seattle fallen an einigen wenigen Ecken optisch leicht ab.“


Dass so viele Testberichte vor der Veröffentlichung von The Last of Us Part 2 überhaupt erschienen sind, überrascht indes. Schließlich schränkte Sony die Berichterstattung massiv ein – zumindest für die, die vor Release am 19. Juni berichten wollen. So schreibt SPIEGEL ONLINE:

„Wer ab dem 12. Juni und noch vor Erscheinen des Spiels einen Testbericht wie diesen hier veröffentlichen wollte, musste geloben, sich im Gegenzug an bestimmte Vorgaben Sonys zu halten. Diese Vorgaben haben zwar keinerlei Einfluss darauf, ob das Spiel im Artikel positiv oder negativ dargestellt wird. Im Fall von „The Last of Us Part 2″ sind sie aber harscher, als es in der Branche üblich ist. So wird es Testern etwa nicht erlaubt, vor dem Erscheinungstag des Spiels bislang unbekannte Schauplätze sowie andere Protagonisten außer Ellie genauer zu beschreiben. Das gilt sogar für Figuren, die bereits in offiziell veröffentlichtem Videomaterial zum Spiel vorkamen.“

Und bei GamePro heißt es:

„Wir sind aufgrund des NDAs (der Verschwiegenheitsvereinbarung) von Sony gezwungen, an bestimmten Stellen des Tests vage zu bleiben, weil wir über spezielle Abschnitte im Spiel schlicht nicht sprechen dürfen.“

Wie die SPIEGEL-Redaktion richtig erwähnt, übt Sony zwar keinen Druck auf die Bewertung aus, verhindert aber möglicherweise dennoch, dass Redaktionen auf bestimmte Negativpunkte eingehen können. NDAs sind keine Seltenheit, oft müssen Redaktionen sie unterschreiben, wenn Kritiken vor Release eines Spiels online gehen. Dass Sony hier härter vorgeht als üblich, erwähnen die meisten Magazine nicht.

In einem von Forbes veröffentlichten Artikel, der medienwirksam mit „Two Warnings About ‘The Last Of Us Part 2’ Review Scores“ betitelt ist, heißt es unter anderem:

„First off, the review embargo itself is quite strict. While most video game embargoes contain some kind of restrictions on what you can talk about or use in video footage, this one forbids any discussion of the second half of the game and limits video footage to just three scenes.“

Drei Szenen! Und weiter:

„The final 12 hours or so are completely off-limits, so the things that reviewers liked or disliked about that portion of the game can only be discussed vaguely.“

Auch wenn sich die Bewertung der Redaktionen nicht ändern mag, wenn sie die Erlaubnis bekommen hätten, über die letzten 12 Stunden des Spiels zu sprechen, werden hier dennoch potentiell negative Punkte unter Verschluss gehalten. Die deutschsprachige Spielepresse macht das nur sehr bedingt deutlich.

  • Bei 4Players heißt es, man habe dem Embargo zugestimmt. Dadurch ergeben sich „einige Lücken“ in der Beschreibung des Spiels.
  • GamePro beschreibt das NDA in einem separaten Kasten im Text und mehrfach im eigentlichen Testbericht.
  • PC Games erwähnt lediglich, man dürfe bis Release nur Bilder von Sony benutzen.
  • Heise schreibt, „unter den strengen NDA-Bedingungen“ war ein Testvideo nicht möglich.
  • Im Testvideo von Gamersglobal heißt es, man könnte „so gut wie nichts“ über Story und Charaktere sagen, auch das Verwenden eigens aufgenommener Spielszenen sei nur „eingeschränkt“ möglich gewesen.
  • Die Testberichte von Games.ch, Gameswelt, GIGA Games, Chip, IGN Deutschland, Eurogamer, Playcentral, Spieletipps, Playfront, Ingame, Play3, Computer BILD und Gamereactor erwähnen die Verschwiegenheitsvereinbarung mit keinem Wort.

Gegenüber Leserinnen und Lesern versagen die meisten Redaktionen in ihrer Aufgabe, journalistisch unabhängig zu berichten – denn wer nicht kommuniziert, willentlich einer Begrenzung der Berichterstattung zugestimmt zu haben, handelt entgegen der Transparenz.

(Außerhalb der traditionellen Spielepresse sieht es übrigens nicht automatisch besser aus: Zwar schreibt der SPIEGEL in einem Disclaimer offen über das NDA, doch schon bei der Süddeutschen hört das Transparenz-Gefühl auf: kein Hinweis auf die Einschränkungen seitens Sony.)


Im – von Sony und Naughty Dog inszenierten – Zusammenschluss von Marketing und Presse gehen zwei Parteien als Sieger hervor: Sony und Naughty Dog. Diverse Redaktionen verschlimmern diesen Zustand noch, indem sie die Arbeitsbedingungen ignorieren, unter denen The Last of Us Part 2 entstand.

In einem Artikel schrieb der ehemalige Kotaku-Journalist Jason Schreier im März 2020 ausführlich über Überstunden und Crunch bei Naughty Dog. So heißt es:

„As one Naughty Dog developer recently told me: “This game [The Last of Us 2] is really good, but at a huge cost to the people.”“

„Even in an industry where overtime is ubiquitous, where it’s near-impossible to find a game that isn’t the result of weeks or months of crunch, Naughty Dog stands out.“

Lediglich ein einziges Magazin (PC Games) der traditionellen Spielepresse erwähnt die problematischen Arbeitsbedingungen – und das auch nur in einem Nebensatz. Ein einziges! Als Randnotiz! Es ist zum verzweifeln.

Ja, einen Einfluss auf die Bewertung eines Spiels mögen solche Berichte über Crunch nicht haben. Doch Videospiele entstehen nicht im verdammten luftleeren Raum. Gleiches gilt für die Spielkritik. Kein Pressekodex, keine Gesetze, keine Pflichten führen zu einer Textart, die der immer gleichen Formel folgen muss, auch wenn die Realität anderes vermuten lässt.

Die offensichtliche Peinlichkeit, seit Jahrzehnten unverändert in Form und Stil ein kulturelles Medium derart versteift einer vermeintlich objektiven Bewertung zu unterziehen, mag viele Gründe haben, und diese Gründe können Klickzahlen und Zielgruppen heißen; doch schon eine kleine Änderung im Test-Konzept, die die Umstände der Entwicklung explizit beachtet, würde vielen Leserinnen und Lesern unabdingbaren Kontext liefern. Kontext, der nicht die Welt retten, aber Teil eines Umdenkens in diversen Geschäftsführungen sein kann, wenn potentielle Käuferinnen und Käufer wissen, wie hunderte, gar tausende Leben willentlich gefährdet werden.

Denn: Crunch geschieht nicht einfach so. Crunch ist eine bewusste Entscheidung der Geschäftsführung. Und noch immer werden problematische Arbeitsbedingungen von der Spielepresse ignoriert.


 

Fazit

Das ist sie also, die Berichterstattung zu The Last of Us 2. Ein vielfach ausgezeichnetes Spiel, das „erwachsen“ sein und ein übergroßes Thema wie Gewalt eindringlich hinterfragen soll, schubst diverse Kritikerinnen und Kritiker durch das Schaulaufen der Phrasen. Viele kleine und große, spannende und radikale Emotionen und Gedanken lassen sich dabei finden, doch sie verschwimmen in der großen Aufzählung zwischen Munitionsart und Straßentextur.

Kein Spiel ist perfekt. Auch The Last of Us 2 nicht. Sicherlich jubeln ausnahmslos alle deutschsprachigen Testberichte. Fast überall festigen Wörter wie „Meisterwerk“ und „Meilenstein“ die Wichtigkeit des Spiels als, nun: Meisterwerk und Meilenstein, ein echter Diskurs kommt dabei aber nur schwerlich zustande. Der vermeintliche Kommentar auf Gewalt wird vielfach kommentiert mit den Worten, Gewalt sei echt schlimm und frische Luft nach dem Kopfabhacken echt unabdingbar. Wenn’s doch wenigstens nicht so hanswurstig, so ganz ohne Pfeffer formuliert wäre!

Im Stil einer makaberen Variante von deepen Kalendersprüchen schreiben diverse Redaktionen fast ähnlich öde von Achterbahnfahrten und Magengruben und zerfetztes Pixel-Fleisch. Wie mutig ein „Testbericht“ doch wäre, wenn eine Kritikerin oder ein Kritiker die Hälfte des geplanten Inhalts für eine Beschreibung der Arbeitsbedingungen bei Naughty Dog verwendet hätte. Oder ein Text, in dem es heißt: Ich habe den Controller nach der Hälfte des Spiels weggelegt – und ihn nicht wieder aufgehoben.

Reviews, Tests oder Kritiken, sie alle sollten formlos sein, sie sollten sich den kulturellen Werten des jeweiligen Spiels anpassen, ihnen gerecht werden, sie hinterfragen oder gleich ganz zertrümmern. Kritiken sollten Widersprüche diskutieren oder gar erst auslösen, sich in Polemik verlieren, blumig und brutal sein im Stil, der Sachlichkeit den Mittelfinger zeigen – und das am besten alles gleichzeitig. Kurz: Spielkritik sollte anders sein. Anders als all die Tests zu The Last of Us 2. Wie schön und wichtig und sexy das wäre.

Und wie naiv, darauf zu hoffen.


Quellenangabe der Artikel über The Last of Us 2:

Weiterführende Links:

12 Kommentare

  1. Fantastische Zusammenschau. Am Beispiel von TLOU 2 sehr viel beschrieben, warum deutscher Spielejournalismus den zweiten Teil des Wortes leider gar nicht verdient.

    Die zwei Zitate aus dem Englischen machen mich sofort gespannt auf die zugehörigen Tests. Und – wie du auch schreibst – nur weil dort auch mal ein Diskurs wirklich angeschoben und durchgedacht wird, macht es ein Spiel ja nicht zwingend schlechter.

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  2. Die linke Gaming-Presse ist vernarrt in Naughty Dog, ihre diversen Charaktere, ihr politisches Weltbild und ihre Tabubrüche. Man klopft sich gegenseitig auf die Schultern, färbt seine Profilbilder in Regenbogenfarben und äußerst sich vielleicht auch noch solidarisch mit BlackLivesMatter. Mir geht dieses selbstgerechte Hippietum nur noch auf den Senkel. Erinnert mich an junge Menschen, die nach dem Abitur für vier Wochen nach Afrika gehen, um Waisenkindern zu „helfen“. In der kurzen Zeit können sie aber nur ein bisschen mit ihnen spielen und eine Spende würde den Waisenhäusern mehr helfen. Eine ernsthafte Debatte über den eigenen Rassismus (ich erinner nur an das AMA von THQ Nordic bei 8Chan) ist nicht erwünscht, das wäre ja Nestbeschmutzung. Auch die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Naughty Dog, die dazu geführt haben, dass man Spieleentwickler durch Menschen aus der Film- und TV-Branche ersetzen musste, werden in den Reviews nicht thematisiert.

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    1. Du siehst Gespenster. Es gibt (leider!) keine „linke Gaming-Presse“. Guck dich um auf GameStar, PC Games oder 4players. Du wirst kaum „linke“ Positionen finden. Wenn für dich Solidarisierung mit LGBTQ oder BlackLivesMatter schon so ein dermaßen linkes Verhalten ist, naja, dann ist für dich vermutlich schon ein linker Schuh eine linke politische Botschaft. Der kommerzielle Spielejournalismus wird noch immer dominiert von sich unpolitisch gebenden Journalist*innen, die den konservativen Teil der Leserschaft hofieren.

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      1. Sie ist nicht links im Sine der Linkspartei, sondern was linke Identitätspolitik angeht. Und diese ist oft nur Symbolpolitik der Besserverdiener, um ein gutes Gewissen zu haben. die aber nichts an den strukturellen Benachteiligungen ändert. Konservative hassen sogenannte „Killerspiele“ und werden sich eher selten auf Seiten wie Gamestar oder 4Players verirren. Das wäre also eine ziemlich schräge Zielgruppe.

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  3. Dieser generische Schwachsinn wird verzapft, weil offenbar viele Leser*innen es gar nicht mehr anders kennen oder wollen. Eine schonungslose Kritik stört nur den Hype und der ist für alle Beteiligten (Spieler*innen, Presse, Produzent*innen) inzwischen offenbar wichtiger als das Spiel selbst.

    Den Magazinen ist inzwischen alles egal, Hauptsache Gott Google spült genug Klickwillige vorbei. Entsprechend sieht es inzwischen auf den Webseiten auch aus und entsprechend lesen sich auch die Texte. Ein Trauerspiel.

    Und da von der Seite der Presse immer mit wirtschaftlicher Notwendigkeit argumentiert wird fage ich mich, warum sie überhaupt noch Leute – wenn auch kümmerlich – für’s Schreiben bezahlen und nicht einfach die PR-Texte der Publisher zu einem klickfähigen Text zusammenkleistern. Was das an Geld sparen würde, das man in mehr Fachmenschen für SEO stecken könnte!

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  4. Wenn man sich die Video“tests“ anschaut und die Texte durchliest, die ja alle deutlich vor dem Launchtag erscheinen durften, kann man nochmal so richtig schön diesen verblichenen elitären Testerstolz durchscheinen sehen: ICH wurde bemustert, ICH darf das schon testen, ihr NICHT. Ab Launchtag interessiert sich keiner mehr für meinen Senf, aber jetzt habe noch ich einen Wissensvorsprung und darf dozieren. Bedingungen durch den Hersteller? Scheißegal, auch wenn sie diesmal wohl völlig absurd waren, alle anderen machen ja auch mit. Hau weg diese journalistische Unabhängigkeit, Hauptsache ich bin einer von drei duzend Leuten in Deutschland, die dieses Spiel vorab spielen dürfen. Selbst Frau Fröhlich (!) hat einen „Test“ veröffentlicht und sich bei den Langers, Liubls und Ricks eingereiht. Leute, es geht um ein Spiel von hunderten, die im Jahr erscheinen! War schwer zu glauben, dass der Sinnloshype um Death Stranding noch zu untertoppen war, aber sie haben es tatsächlich geschafft. Für ein Videospiel, das man nur auf einer Konsole spielen kann. Mir graut´s schon jetzt vor GTA 6, aber das dauert ja noch sehr lange.:-)

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    1. Find’s ja ehrlich gesagt ein bisschen befremdlich, dass auch ein Magazin wie Games-Wirtschaft, das eher als Branchenmagazin gilt, plötzlich einen vermeintlich unabhängigen Test veröffentlicht – in der Kategorie „Marketing & PR“.

      Und ey: Wenn man der Spielepresse glauben sollte, erscheint GTA 6 *checkt die Notizen* morgen!

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  5. Lieber Jannick, erst mal herzlichen Dank, dass deine Artikel das auspacken, was am Ort des Geschehens leider gerne unbeantwortet gelassen wird. Mir fällt es ebenso auf, wie die Presse da mittlerweile auf gleich gepolt ist, und Christian Schmidts Aussagen von einst sind immer noch zu beobachten. Die Unbequemen und Kritischen sind wahrlich nicht erwünscht, und so wird jeder Hype-Artikel zu einem Bildnis vom sabbernden Teenie, der einer großbusigen Dame hinterher läuft. Da läuft in der allgemeinen Wahrnehmung schon was falsch, und Kritik wird auch schnell in die No-Go-Ecke geschoben. Kritikfähigkeit gibt es faktisch nicht. Ich erwähne das alles nur stellvertretend für viele Vorfälle, und diese Bücklingshaltung gegenüber TLOU 2 ist da nur stellvertretend für jeden AAA-Titel zu verstehen.

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